Gruselgeschichte: Graf Hölderlin: Keine Ruhe zu Halloween

Lesen Sie hier exklusiv eine neue Gruselgeschichte zu Halloween 2012.

Graf Hölderlin, der Jüngere (wir wollen genau sein, und Gustav Hölderlin von Burggraf zu Heinstätten zu Königshein auch bei seinen vollen Namen nennen) bewohnte, seit dem er denken konnte, Burg Königshein. Um genau zu sein, seit 372 Jahren. Und um noch genauer zu sein, hätte Hölderlin außerdem sein Leben dafür geben, auch die nächsten 300 Jahre zurückgezogen und in Ruhe vor Menschen (die Tagsüber durch die zum Museum umgewandelte Burg geführt wurden, während er sich in seinen Dachgemächern zurückzuziehen pflegte). Wenn er des Nachts seine Runden durch die verlassenen Säle und endlosen Korridore auf Burg Königshein drehte, schaute er wehmutsvoll auf die Bilder der Ahnengalerie, auf denen seine Vorfahren zu sehen waren (allesamt führten sie Graf, Herzog und Fürst im Namen, wie auf kleinen vergoldeten Namenstäfelchen zu lesen war). Vor einem Gemälde, auf dem ein junger Knabe kränklich auf ihm dreinblickte, blieb er des Öfteren stehen und betrachte das Bild nachdenklich.

Doch mit der ersehnten Ruhe und Zurückgezogenheit war seit einigen Jahren Schluss – Gespenster sorgten (immer pünktlich im Oktober) für Unruhe. Vampire, Geister und Phantome trieben dann plötzlich ihr Unwesen auf Burg Königshein und versetzten ihn in Angst und Schrecken. Schon Monate vor den zu erwartenden grausigen Ereignissen überkam Graf Hölderlin eine seltsame innere Unruhe, die – je näher die verhängnisvolle Zeit näher rückte – zu schlaflosen Nächten, Ausschlag und fiebrigen Zuständen und (der Vollständigkeit halber sei dies erwähnt) auch zu Bettnässen führte. Fand er schließlich für nur wenige Stunden einen unruhigen Schlaf, schreckte er nicht selten schweißgebadet auf. In seinen Träumen sah er sich umzingelt von schrecklichen Fratzen, die um ihn kreisten und „Süßes, sonst gibt’s Saures!“ riefen. Ach, wie sollte das nur weiter gehen? Schon sah sich Hölderlin seinen 373sten Geburtstag nicht mehr erleben.

„Süßes, sonst gibt’s Saures!“ erschall auch dieses Jahr der schreckliche Ruf, der erst durch die Korridore und schließlich in seinen Ohren widerhallte. Graf Hölderlin zuckte augenblicklich innerlich zusammen und verbarg sein Gesicht in den Händen: Warum suchten diese Wesen ausgerechnet ihn Heim? Hatte er nicht schon genug mit der Last der Jahre zu kämpfen? Wenn sich die Schritte der furchterregenden Gespenster, blutrünstigen Vampire und schrecklichen Monster irgendwann im Morgengrauen verloren, kam auch Graf Hölderlin wieder zur Ruhe und zitternd und bibbernd verließ er schließlich sein Versteck im Dachgeschoss der Burg. Mehrmals versicherte er sich, dass keine Geräusche zu hören und keine Geister zu sehen sein würden und wagte dann einen Blick in den großen Saal. Der Anblick war wie immer erschütternd. Wie schon all die Jahre zuvor hatten die Geister eine großes Durcheinander an Papieren, leeren Getränkedosen und Süßigkeiten hinterlassen, für die die Reinigungskräfte Tage brauchen würden, um sie zu entfernen. „Schmutzfinken. Diese Geister sind einfach nur Ferkel“, sprach er zu sich und beschloss: Keine Putz- und Aufräumkommandos mehr für diese Horde von Barbaren – damit war ab nun Schluss! Nächstes Jahr sollte alles anders werden. Graf Hölderlin würde allen seinen Mut zusammen nehmen und für Ruhe und Ordnung sorgen.

Doch so sehr er sich mühte, eine Lösung zu finden, wollte ihm partout nichts Brauchbares in den Sinn kommen. Zwar las er über Drudenfüße, die über Türen Geister in die Flucht schlagen sollten und über Knoblauch, das bei Vampiren für eine vernichtende Wirkung sorgen würde, doch fand er nur trockene Knoblauchreste in der Speisekammer vor und die Tinte seiner Tintenfässer war bereits vor mehr als 150 Jahre getrocknet. Es blieb nur die Flucht nach vorne. Im Zweifel musste der Kampf Mann gegen Mann über die Vorherrschaft auf Burg Königshein entscheiden. Würden die Geister und Dämonen mit dem schrecklichen „Helllllooooweenn“-Ruf (Graf Hölderlin hatte den Versuch längst aufgeben, die Bedeutung dieser Worte zu enträtseln) oder dem Ausspruch „Süßes, sonst gibt’s Saures!“ den Schwerthieben ausweichen und sie parieren können? Nachdem er schließlich Säbel und Schwerter auf Vordermann gebracht und sich ein Jahr lang fast täglich auf den großen Kampf vorbereitet hatte, sah er diesem mit immer mehr Zuversicht entgegen – er konnte sich nicht erinnern, sich in den letzten 200 Jahren so in Form gefühlt zu haben. Dann kam der Tag der Entscheidung.

„Süßes, sonst gibt’s Saures“, schrien wir wie jedes Jahr beim Eintritt durch das große Burgtor und was dann geschah, macht mich heute noch nachdenklich, wenn ich daran denke. Vor mir und meinen Freunden hatte sich eine kleine, hagere Gestalt aufgebaut, die wie wild mit verrosteten Schwertern fuchtelte und dabei so seltsame Sachen rief, wie „Kämpftet ihr Geister, kämpfet ihr Dämonen, wenn ihr Mannesmut in euch spüret“ und dergleichen mehr. Seine langen grauen Haare umrahmten dabei ein seltsam kindlich wirkendes Gesicht. Im ersten Augenblick wichen wir zurück und beäugten durch unsere Vampir-, Monster- und Gruselmasken die seltsame Figur, die auf- und absprang (und unter uns gesagt, mehr als Angst als Courage zu haben schien), während sie uns mit nur zum Teil verständlichen Worten und Lauten übersäte. Als dann Jens aus vollem Hals zu Lachen begann und dem kleinen Mann auf die Schulter klopfte, wurde auch mir klar: Das war das beste Kostüm, was ich seit Jahren gesehen hatte. „Süßes, sonst gibt’s Saures!“, rief im gleichen Moment Ralf hinterher – dem kleinen Männchen wich die kaum vorhandene Farbe aus dem hageren Gesicht und er ließ das Schwert sinken.

Die Party war schon in vollem Gange, als wir uns an endlosen Reihen von Bildern früherer Bewohner der Burg dem Burgsaal näherten. Und auch wenn wir den Rest des Abends den kostümierten Jungen (von dem wir nur soviel verstanden, dass er Gustav Hölderlin hieß und der ansonsten nicht viel sprach und recht scheu wirkte) zwischen uns setzten, geht mir bis heute noch eines der Ahnenbilder durch den Kopf, das eine auffällige Ähnlichkeit mit unserem Freund hatte. Schnell verwarf ich jedoch den Gedanken, denn auf dem verstaubten Gemälde war ein kaum zwölf Jahre alter Junge zu sehen, der mit traurigen und kränklichen Augen auf den Zuschauer herabblickte. Auf einer kleinen Tafel darunter waren das Geburts- und das Sterbedatum angegeben: 1640 bis 1652. Als wir spät am Abend schließlich nach Hause gingen, hatte ich diesen Gustav Hölderlin bereits aus den Augen verloren – und habe ihn bis heute nie wieder gesehen.

Autor: M. Jung
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